erschienen am 12.06.2021 auf punkgebeteblog
Erinnerung ist eine Konstruktion. Aber geteilte Erinnerungen stiften auch Identität. Welche Erinnerungen schaffen es in die Öffentlichkeit, welche werden gefördert, welche ignoriert und wie kann man dies ändern, fragt die CPPD.
Am Montag fand die „Lange Nacht der Ideen des Auswärtigen Amtes“ statt. Die Lange Nacht der Ideen ist eine Reihe des AA, während die Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD) eine Gründung der „Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch„ eines Programms der Leo Baeck Foundation ist und dem interreligiösen Dialog dienen soll.
Die CPPD hat während der langen Nacht interne Gespräche geführt. Da das Projekt erst im Mai mit seiner Arbeit begann, vergewisserten sich die Beteiligten ihrer Einstellungen und Ziele. Als Interviewer fungierten der „Director of Development Leo Baeck Foundation Projektleiter des Programms Dialogperspektiven„, Jo Frank, und Dr. Max Czollek, akademisch-künstlerischer Leiter CPPD. Die Gesprächspartner*innen waren Akteur*innen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, deren Mitarbeit an dem Projekt bereits ausgemachte Sache war. Nichts davon wunde verheimlicht und daher gibt es nichts offenzulegen, doch um die Strukturen nachzuvollziehen, war die mündliche Erwähnung für mich etwas zu schnell und beiläufig.
„Wer erinnert wann, wo, wie und an wen? Wessen Erinnerung wird sichtbar gemacht – durch staatliche Förderung, durch Ausstellungen, Denkmale, Gedenktage – wessen nicht? Diese Aspekte tragen entscheidend dazu bei, wie sich eine Gesellschaft selbst erzählt, wer dazugehört zu ihrem Wir„.
Während im Namen der „Dialogperspektiven“ der interreligiöse Dialog klar als Absicht und Aufgabe erkennbar ist, hat der CPPD die Perspektive erweitert. Deren Projekt formuliert das Programm
Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch wie folgt:
„RADIKALE VIELFALT prägt schon heute die europäischen Gesellschaften. Das hat Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis, das von politischen Vorstellungen bis zu öffentlichen Formen der Erinnerung reicht. Dialogperspektiven möchte diese Erinnerungskulturen neu denken und Strategien und Visionen für pluralistisches Erinnern entwickeln.“
Ich kann das Video als Anregung nur empfehlen.
Während die Notwendigkeit der beständigen Erweiterung der Perspektive der Erinnerung durchaus plausibel gemacht wurde, werfen andere Interviews und Artikel des CPPD Fragen auf. Das hat damit zu tun, dass es realtiv leicht scheint, Ansprüche zu formulieren, wenn es noch nichts zu verteilen gibt, außer der Aufmerksamkeit. Was passiert aber bei konkurrierenden Erinnerungen und Gedenkakten? Als Beispiel wurde in der Langen Nacht der Ideen das Kolumbus-Jahres genannt: Woran wird erinnert? Steht der Beginn von Aufklärung und des Zeitalters der Entdeckungen im Fokus oder der Start der Conquista („Eroberung [Amerikas bzw. der Neuen Welt]“) und des damit verbundenen Leids?
„ERINNERUNGSKULTUR IST POLITISCH. Sie enthält eine Deutung von Geschichte, eine Interpretation von Gegenwart, Visionen von Zukunft sowie Identitätsangebote. Erinnerungskultur macht bestimmte Gruppen und ihre Perspektiven sichtbar und schließt damit andere Gruppen und Sichtweisen aus. Darum nutzen Populist*innen Erinnerungskultur, um ihre Vorstellung von Gegenwart und Zukunft historisch zu untermauern – von der Erfindung eines jüdisch-christlichen Abendlandes bis zur Infragestellung der Erinnerung an die Shoah.“
Zurecht versteht die CPPD das Erinnern als politischen und ideologischen Akt. Alle Gedenkakte sind umkämpft, diskursiv oder in anderen Fällen handgreiflich. Die Bundesrepublik schafft es 70 Jahre nach Ende des Terrors der Nationalsozialisten immer noch nicht, den 8. Mai als Feiertag zu etablieren. Noch immer ist das Erinnern an die Befreiung von der NS-Zeit offenbar nicht konsensfähig. 9. November: Novemberrevolution, Reichsprogromnacht oder Mauerfall? Woran gedacht wird, hängt von der politischen Einstellung und nochmehr von den Jahreszahlen, den Jubiläen, ab. Schließlich sind dies auch mediale Ereignisse.
Politisches Handeln als ständiges Gedenken? Zurecht erinnert Jo Frank im Gespräch mit dem Deutschlandfunk daran, dass beim Gedenken an die Shoah etwas schiefläuft, wenn das „Nie wieder!“ nichts mehr bedeutet und die Rechte erstarkt. Gedenken ohne Konsequenzen? Sicher nicht. Oder ist dies lediglich die (zukünftige) Arbeitsteilung zwischen den Thinktanks, die neue Termine schaffen und dem Fußvolk auf der Straße, die die Relevanz des Erinnerns verteidigen?
Das Aneignen des Gedenkens Anderer?
Die Programmleiterin des Programms Dialogperspektiven Johanna Korneli, Max Czollek und Jo Frank erläuterten im Tagesspiegel, dass die Geflüchteten mit ihrer Ankunft auch neue Gedenkanlässe mitgebracht haben, die bislang „noch gar keinen Raum im deutschen Erinnerungsnarrativ haben: der Krieg in Afghanistan, in Syrien, im Irak, die Revolution im Iran, die Migration als Ergebnis der Implosion der Sowjetunion, das Leben als Nachfahren kolonialer Unterdrückung.“
Wie kompliziert dies wird, darauf weisen die Autor*innen im Tagespsiegel selbst hin. Doch der zitierte Absatz wirft soviele Fragen auf, dass der Punkt als Satzzeichen unangebracht scheint. Welche Perspektive auf die Geschehnisse soll in das deutsche Erinnerungsnarrativ eingehen? Gibt es überhaupt ein deutsches Erinnerungsnarrativ, oder ist dies nur eine bequeme Annahme und gemeint ist das offizielle Narrativ? Was ist das deutsche Narrativ bezüglich Konflikte in denen Deutschland keine Partei war oder höchstens als Waffenlieferant? Alleine, dass die Autor*innen vom Krieg in Afghanistan reden, deutet darauf hin, dass unterschiedliche Perspektiven existieren. Für einige Afghan*innen sind es mehrere aufeinander folgende Kriege und Bürgerkriege beginnend mit dem Einmarsch der UdSSR im Jahre 1979. Andere haben die letzten vierzig Jahre möglicherweise als einen ständigen Krieg wahrgenommen. Oder ist der Krieg gegen den Terror gemeint? Über was sprechen wir und wer bestimmt das? Ähnlich abwechslungsreich war es für Iraker*innen: erst der Krieg gegen den Iran, der Golfkrieg mit den Angriffen der USA und letztlich der Kampf gegen den Islamischen Staat. Entweder die Gedenkanlässe werden unweigerlich zu Fraktionenbildung innerhalb der Communities führen oder aber eine Schiedsstelle setzt eine deutschirakische, deutschafghanische, deutschiranische usw., hegemoniale Geschichte fest, um innerdeutsche Ruhe herzustellen und entmündigt die Iraker*innen im Irak, die Afghan*innen und Iraner*innen im jeweiligen Heimatland. Sie sind es, die ihre eigene Geschichte schreiben müssen. Anderenfalls müsste man von einem Rollback in der internationalen Politik sprechen, in Zeiten in der Europa die Geschichte der anderen schrieb.
Etliche Dialoge müssen eröffnet werden und ich teile einige Ansätze, aber mir scheint es ein Unterschied zu sein, den nationalen Minderheiten der Sinti*zze und Rom*nja Gehör zu verschaffen, oder die Hintergründe der Migrannt*innen zu integrieren. Allerdings macht die Soßengate Affaire auch deutlich, wie schnell die Diskurse auf Nebengleise führen. Auch wenn es wichtige Diskursstränge sind, bleiben es Nebenstränge. Erstere teilen mit der Mehrheitsgesellschaft die gleichen Bezugspunkte, etwa die Shoah. Dies ist aber nicht für alle Menschen aus allen Regionen der Welt selbstverständlich. Die Mehrheitsgesellschaft und die Neubürger*innen dürfen keine Konflikte scheuen und es werden sich Punkte finden, sobald die Zugezogenen ihre Positionen und ihre Stimmen finden. Aber auf keinen Fall darf man diese Vorgänge in Projektzeiträume messen. Spannend.
Links zum Thema Erinnerung:
Rede Frank-Walter Steinmeier: Deutsch-Russisches Museum Karlshorst
Zentrale Gedenkrede zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und Eröffnung der Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“