Das Haus am Grünen Weg

Die Kommune/das Haus/ die Pension des Kunsthandwerkers Karl Raichle bildete Anfang der 1920er einen wichtigen Anlaufpunkt für Visionäre aller Couleur.

Der aus Dettingen/Teck stammende Karl Raichle legte 1919 gemeinsam mit seiner Ehefrau Elisabeth und den beiden roten Matrosen Theodor Plievier und Gregor Gog den Grundstein zum „Uracher Kreis“. „Der Hausbau für ihre Kommune am Grünen Weg war 1921 beendet. Vom Uracher Kreis spricht man offiziell ab 1923, weil da Karl Raichle seine Zinnschmiede eröffnet hat“, erklärt Patrick Spät Claudia Reicherter im Dienstagsinterview. Dennoch ist der Uracher Kreis, obgleich einige „Mitglieder“ bekannt waren oder später noch bekannt wurden, wenig untersucht. Die zeitweise Anwesenheit des späteren DDR Minister für Kultur Johannes R. Becher ist dagegen belegt, hat „er seinem Freund doch erkennbar als „Vorbild für den »Wanderer aus Schwaben«“ (120) genommen. „Denn es ist ein am Kieler Matrosenaufstand beteiligter Seemann, in dessen Haus am Grünen Weg sich die Lebensreformer und Anthroposophen tummeln, die auch den »Uracher Kreis« ausgemacht haben“. (114/115)
Auch Erich Mühsam gehört in die Riege der Persönlichkeiten, die öfter zu Gast waren und wird häufig erwähnt.

Wie das Leben sich konkret gestaltete, ist etwas unklar und schwankt, je nachdem welcher Autor sich des Themas annimmt. Während Patrick Spät, der Texter des Georg Gog-Comics „König der Vagabunden“ den produktiven Part des Aufgenthalts hevorhebt („Freikörperkultur und politische Diskussionsabende – all das gehörte dazu.„), gibt Herrman Bausinger die Sicht der Uracher wieder und bewertet, das Treiben weniger romantisch.

„Vermutlich sind diese Äußerungen nicht allzu ernst zu nehmen — oder richtiger: sie sind wohl in erster L i n i e ernst zu nehmen als Spiegelung einer Bürgerschreckposition, wie sie von den Genossen am Seeburger Weg eingenommen wurde; sie vertraten bewußt sozialistische Ideen, verbunden mit naturschwärmerischen und allgemein antibürgerlichen Elementen.“

H e r m a n n Bausinger: Lichtenstein und Huhkahöhle — Die Uracher Alb als „Literaturlandschaft„, 1970.

In diesem Zusammenhang muss allerdings erwähnt werden, dass sich Urach zu dieser Zeit „zu einem Zentrum der Vagabundenbewegung entwickelt hatte“. Und auch wenn dies noch nichts über die Anzahl der Besucherinnen sagt, so schreibt der Schwäbische Alb Tourismusverband, an Wochenenden sei „die Kommune oft auf über 100 Mitglieder“ angewachsen, während anderorts saisonabhängig vom 30 Herbergsgästen berichtet wird.

Kristin Eichhorn fasst die Beschreibung Bechers von den Gästen im Grünen Weg wie folgt zusammen:

als „Leute, die sich »von Drogen« ernähren und »schlaftrunken um das Haus« wandeln, »welche, die nur barfuß gingen/Und die sich Kränze um die Haare hingen«, dazu der Kräutertee trinkende »Übermensch«, der Widukind als seinen »Ahnen« verehrt –, bevor der »Wanderer« für seine revolutionären Ansichten ermordet wird.“

Kristin EichhornJohannes R. Becher und die literarische Moderne, 2020, 120.

Im angesprochenen Comic gibt es ein Bild, „wie Gog mit Mühsam und anderen Männern und Frauen nackt im Fluss badet und damit zum Bürgerschreck wird“, ist in der Besprechung von Andrea Heinze auf Comic.de zu lesen. Tatsächlich wird das Nacktbaden in mehreren Texten erwähnt, was wohl darauf hindeutet, dass die Freikörperkultur auch bei entfernt wohnenden Nachbarn nicht gern gesehen war. „Was sich da in den frühen Zwanzigerjahren am idyllischen Oberen Brühl unter der Ruine Hohenwittlingen auf dem Anwesen des Zinnschmieds Karl Raichle und seiner Frau Elisabeth abspielte, war ihnen nicht geheuer. Man badete nackt in der Erms. Seltsame Gäste gingen aus und ein“, führt Martin Bernklau in seinen Artikel ein. Allerdings gab es wohl auch Zeitgenossen, die sich alle Mühe gaben, alles ganz genau zu betrachten. „Ein Amtsrichter hatte vom Schorrenfelsen aus mit Feldstecher beobachtet, wie in der Raichle-Siedlung nackt gebadet wurde – und sogleich die Polizei in Marsch gesetzt“ schreibt 2014 der Reutlinger Generalanzeiger. Ein ruhigeres Bild zeichnet der häufige Gast Alfred Daniel, laut einem Beitrag der Zeitung. „Am Abend wurden Gedichte rezitiert, Lieder gesungen und atonale Musik auf dem Harmonium gemacht. »Da war ein Hauch von Boheme zu verspüren«.“

Reger Wechsel und ein später Winkel

Unabhängig von der Einschätzung der braven Bad Uracher fällt es nicht leicht den politischen Charakter der Kommune einzuordnen, dieser scheint eher fließend als eindeutig gewesen zu sein. Klaus Trappmann stützt sich auf den Plievier-Biografen Harry Wilde, wenn er angibt, dass sich Plievier, Gob und der „anarchistische Matrose Raichle“ […] „das ganze Jahr über“ heimlich „im Kellerraum der Kasernergärtnerei“ trafen, „um ungestört politisch diskutieren und spintisieren zu können.“ Außerdem gibt Trappmann an, dass Raichle „Bücher von Stirner, Kropotkin und andere anarchistische Schriften“ mit ins Wachlokal brachte. (Trappmann: Heimweh nach der Ferne – Ein deutsches Vagabundenleben, 12). 1920 organisierte Dr. Strünkmann in der „Kommune“ Reichle „eine Tagung der ‚Christ-Revolutionären Bewegung, an der auch Plievier und Gog teilgenommen haben.“ (13)
Alfred Daniel verklärt Gog, der damals als Redner für die Christ-Revolutionären tourte, als einen echten christlichen Revolutionär: „Tolstoi-Bakunin-Kropotkin, scharfer Dialektiker, Franziskusgestalt“ (zitiert nach Trappmann, 13).

1923 zogen Gastgeber und Gäste um. Bis 1930 boten Karl und Elizabeth Ihren Gästen ein offenes Haus. Doch verschieden schnell trennten sich auch die Wege wieder. Theodor Plievier fand in Bad Urach seine Partnerin und zog bereits 1920 nach Berlin. Gregor Gog zog mit seinem Sohn und seiner zweiten Frau Anni Geiger zunächsat nach Thüringen und reiste im April 1924 „ins brasilianische Rio de Janeiro, um dort eine ‚Bruderschafts-Familiensiedlung‘ nach dem Vorbild Tolstois zu gründen.“ Nach wenigen Monaten Aufenthalt zog es die kleine Familie zurück in die Schwabenmetropole Stuttgart, wo er auf dem Killesberg 1929 den berühmten Vagabundenkongress organisierte. Nach 1930 und einem Aufenthalt in der Sowjetunion wurde er zum Kommunisten.

„Der verheißungsvolle Autor [gemeint ist Johannes R. Becher, K.A.] verbrachte viele Sommer an der Erms, wo er sich in einem kleinen Nebengebäude auf dem Grundstück der Raichles ein festes Quartier eingerichtet hatte.“ Becher scheint vor allem in der ersten Hälfte der 20er in Urach gewesen zu sein, „in der er selbst angibt, nur noch in der Bibel gelesen zu haben“, weshalb diese Zeit bis 1924 vom Literaturwissenschaftler Norbert Hopster als „»hymnisch-religiöse« Phase“ (15) benannt wird. 1925 als Raichle den einzige Sitz für die KPD im Gemeinderat hatte, zog der „Genossenschaftsvisionär und Journalist Dr. Karl Bittel und seine Frau Mia mit ihren beiden Kindern in einem Häuschen in nächster Nachbarschaft, das sie zuerst als Feriendomizil errichtet hatten, um es mehr und mehr zu einer festen Bleibe auszubauen.“ Noch heute bestehen das »Becher-Häusle« und am andern Erms-Ufer das »Bittel-Häusle sowie das Haupthaus. „Zusammen ergaben die drei Häuser eine kleine alternative Siedlung, die bei den Einheimischen als »Verschwörerwinkel« oder »Klein-Moskau« verschrien war.“

Schaut man sich den Wandel der Einstellung der Kommunaden an, so scheinen anarchistische Impulse verschiedener Schriftsteller vor und während der Novemberrevolution prägend gewesen zu sein. Die mehrmaligen Besuche Mühsams könnten als ein Beleg dafür gelten. Die Christ-Revolutionäre Phase verbandt sich in Gogs Fall mit dem Namen Tolstoi, der einen christlichen Anarchismus vertrat. Ob dies bei Becher auch so war, konnte ich nicht erfahren. Raichle und Becher, die noch länger Kontakt zu einander hielten, wandten sich beide Mitte der 20er Jahre dem Kommunismus zu. Auch in dieser Entwicklung sind Raichle und Gog nicht alleine. Einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Nachkriegs SPD, Herbert Wehner, ging eine ähnlichen Ideologischen Weg.
Die Gäste, in der Raichle-Pension waren genauso vielfältig. Christ:innen, Anarchisten, Vagabund:innen, Künstler- und Dichter:innen, Theologen. Vieles spricht dafür, dass Haus am grünen Weg eher als Begenungsraum, als offenes Haus denn als Kommune zu sehen ist. Das Kommen und Gehen der Gäste der Pension, von Freund:innen und Bekannten, von Vertreter:innen unterschiedlicher Denk- und Glaubensrichtungen spiegelt die Pluralität und den Aufbruch nach dem ersten Weltkrieg wieder.

Bereits beim Bau des Hauses am Grünen Weg bestand die Absicht, „sich ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen“, da Raichles „Schriftstellerei und das Kunsthandwerk […] nicht viel einbrachte.“ Zugleich sollte Monte Verità „der Uracher Alternativsiedlung als Vorbild“ dienen. Demnach muss man davon ausgehen, dass das Gastgewerbe mehr war als die Liebhaberei eines Clubhausbesitzers. Obwohl Raichle sowohl als Zinnschmied als auch als Wirt arbeitete, scheint das Ehepaar sein wirtschaftliches Ziel nicht erreicht zu haben.

Im August 1927 gab das Ehepaar in der Zeitschrift »Die Lebensreform« eine Anzeige auf:

»Gesinnungsfreunde finden in der Schwäbischen Alb, 20 Minuten vom Luftkurort Urach, angenehmen Erholungsaufenthalt in schöngelegenem Landhaus«, hieß es da. »Unmittelbar beim Haus Frei- und Lichtbad, herrlicher Bergwald. Pensionspreis bei guter, reeller Verpflegung 4,50 Mark. Auf Wunsch vegetarische Küche.«

Der Traum von einer besseren Welt – geträumt in Bad Urach, www.gea.de

Was ein normales geschäftliches Vorgehen ist, kann als Indiez für die Notwendigkeit gelesen werden, sich dringend neue oder andere Gäste zu suchen. Ein Jahr später, 1928, ging der Kunsthandwerker Karl Raichle nach Dessau am Bauhaus, um sich weiterzubilden. 1929 kehrte er jedoch bereits nach zwei Semestern zurück nach Urach. Persönliche und wirtschaftspolitische Gründe, die Weltwirtschaftkrise, zwangen ihn dazu. Wieder ein Jahr später, war das Kapitel am Grünen Weg bendet. „Damit setzten sie den Schlusspunkt unter ein Kapitel der Geschichte der Lebensreform im Südwesten und beendeten eine bedeutende Episode in der lokalen Historie von Bad Urach„, heißt es auf der Seite des Reutlinger General Anzeigers. Damit vollzieht die Reutlinger Redaktion in dem Artikel die Sichtweise mit, die Christoph Wagner in seinem Buch »Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880 – 1940)« einnimmt.

Man kann sich seine Enkel ja nicht Aussuchen

Ökos damals und Ökos heute und schon gehört selbst der pensionsreife, ökokonservative, grüne Landesvater Winfried Kretschmann zur Enkelgeneration. „Wenn der Ur-Grüne zurückblickt, erkennt er durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Anfängen der Öko-Partei und den Menschen, die sich in den 1920er-Jahren im Roten Winkel trafen und in der Erms nacktbadend – Männer und Frauen gemischt – für irritierte Blicke in Urach sorgten.“ Ein wesentlicher Unterschied zwischen den „Generationen“ ist ihr Verhältnis zum Utopischen. »Brauchen wir heute wieder mehr Utopie«, fragt Wagner. »Wir verabschieden uns gerade davon«, sagt Kretschmann nüchtern. Wagner

„hat, und das ist in der Form neu und deswegen verdienstvoll, viele Vereine, Zeitschriften, Orte und Personen aus Württemberg zusammengetragen, und das umfangreiche Personenregister erleichtert die Nutzung. Die gesellschaftliche Linke dieser Jahre kommt jenseits der Nennung von später prominenten Einzelpersonen (Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Hermann Hesse, Friedrich Wolf) nur in Form der Naturfreunde vor (S. 108-117).“

Bernd Hüttner: Nachricht | 05.08.2023 Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880-1940); Ubstadt-Weiher 2022. Reich mit historischen Abbildungen versehener Band, auf rosalux.de

Aktualisiert am 17.6.24.

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