Von den Nebenwidersprüchen zum Mosaik!

zuerst erschienen auf punkgebeteblog am 26.05.2021

Auch wenn Wagenknecht die Identitätspolitik (auch) strategisch einsetzt, über die Ansprüche der Identitäspolitik lässt sich streiten. Was ist Identitätspolitik und warum der Streit?

Wie ich erstaunt festgestellte, gabe es auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis eine skeptische bis ablehnende Haltung zur Identitätspolitik. Was mich zunächst angefressen hat, ist eine Position, die fast so alt ist wie die Identitätspolitik selbst. Aber keine Sorge, das wird keine Chronologie.

Der letzte Satz vom Kapitel II des „Kommunistischen Manifest“ lautet:

An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.

Zwar sprechen Marx und Engels hier von der künftigen Gesellschaft, aber weder war dieser Satz aus der Zeit gefallen, noch zufällig. Martin Hundt weist im ND darauf hin, dass der Kampf um individuelle Rechte durchaus im Bund der Kommunisten, jener Bund, für den das Manifest der Kommunistischen Partei geschrieben wurde, Teil des Selbstverständnisses war. 1845 betonte Karl Schapper, Präsident des Kongresses von Ende 1847, in einer Diskussion: »Wir sind Vorkämpfer für die Freiheit des Individuums, wie unsre Vorväter es für die Religionsfreiheit waren…«“

Andreas Wehr drückte vor der Bundesausschusssitzung der LINKEN seine Sorge aus, mit der Interpretation, dass hier das Individuum Ausgangspunkt der Freiheit sei und nicht die Klasse, würde die LINKE zu einer Bürgerrechtspartei, die im deutschen Parteienspektrum niemand brauche.

„Vielmehr geht es hier um die Aufhebung des Klassengegensatzes und von Klassen überhaupt. Davon handelt der Absatz, der dem Satz vorangeht. Marx und Engels gingen also davon aus, dass erst die Aufhebung des Klassengegensatzes die freie Entwicklung eines jeden möglich macht – und nicht umgekehrt.“

Wehr wendet sich in seinem Beitrag gegen die Vertretung von Minderheiten und fordert, dass die LINKE den Anspruch haben solle, die sozialen Rechte der Mehrheit zu vertreten. „Ihre geschichtliche Mission besteht darin, ‚alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist‘.“
Für mich stellt sich die Frage, warum mit dem Kampf darum solange warten? Fangen wir doch mit dem Kampf um die Würde des Menschen, der Schwarzen, der PoC, und Frauen der LGBTQ-Personen und den ökonomisch Abgehängten an und wenn bei Rütteln an den Ursachen dafür, dass der „Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist, noch nicht alle Verhältnisse umgeworfen sind, machen wir eben weiter.
Es gibt aber noch eine andere Kritik an der Orientierung an der Klassen. Es ist nicht alleine die ökonomische Stellung, die die Arbeiterklasse schafft. Das ist nur der erste Schritt, wie man in „Das Elend der Philosophie“ lesen kann.


„Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen.“ (S. 180f.)

Es ist also der Kampf, der das gemeinsame Interesse hervorbringt und noch nicht organisierte „Massen“ zu einer Klasse werden lässt. Michael Vester, nennt diese das „Konzept der Gegenmacht“ im Gegensatz zum Konzept der „abkürzenden Revolution“ . Die Klasse muss sich also durch das gemeinsame Handeln erst bilden, „diese Identifizierung musste mittels Identitätspolitik erst hergestellt werden. Die Geschichte der emanzipatorischen Identitätspolitiken muss also mit der ArbeiterInnen-bewegung, oder allgemeiner, den ArbeiterInnenbewegungen ansetzen.“ (Lea Susemichel & Jens Kastner, 2020, 36).

Freiheit? Gleichbehandlung!

Was aber heißt im Kontext der Identitätspolitik Freiheit? Bini Adamczak, marxistische Queer-Theoretikerin, definiert den Begriff queer als „»Begierde, nicht dermaßen identifiziert zu werden«.“ (Adamczak, nach Lea Susemichel & Jens Kastner, 2020, 115). Nach Susemichel und Kastner ist sich Adamczak sich darüber im Klaren, dass die Identifikation durch Andere nicht zu umgehen ist, aber es geht um die Differenz vom Selbstbewusstsein und Fremdwahrnehmung und -zuschreibung. Und genau deshalb ist die Konzentration auf die eigene Identität so bedeutsam. Holzschnittartig kann man diesen Wunsch vielleicht als das Gemeinsame der verschiedenen Identitätspolitiken nennen. Bei Black Lives Matter (BLM) Berlin heißt es entsprechend:

Wir sind Schwarze Menschen und in dieser Positionierung absolut kompromisslos. Weil nicht verhandelbar ist, dass unsere Leben von Wert sind, brauchen wir uns nicht dafür zu rechtfertigen, dass wir für uns einstehen. Selbstbestimmung, Selbstliebe und Gerechtigkeit sind für uns notwendige Voraussetzungen, um dasselbe auch für alle Anderen einzufordern.“

Aber nicht alles kann identifiziert werden. Kann das biologische Geschlecht noch gelesen werden, geht dies bei LGBTIQ-Personen (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Intersexual, Queer; deutsch: lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter, queer) schon nicht mehr. Wir sind darauf angewiesen, dass sich die Mitglieder dieser Community mitteilen.

Erfreuliche Schritte

Geht es bei race und sex um sichtbare Kriterien und um die selbstver-ständliche Forderung nach einer Gleichbehandlung. Ist gender die gesellschaftliche, also die soziale Dimension von Geschlecht und die wird gesellschaftlich ausgehandelt. Zu erwarten, dass die Expert*innen ihrerselbst sich nicht äußern, wäre undemokratisch.
Die Europäische Kommission hat im November 2020 eine „LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie 2020-2025″ verkündet, die „nur“ noch umgesetzt werden muss. Nur? Gerade was Antidiskriminierung angeht, geht die Kluft zwischen gesetzlichen Vorgaben, normativer Anspruch und gesellschaftliche Realität weit auseinander. So „fühlten sich 43 % der LGBT-Personen 2019 diskriminiert, gegenüber 37 % im Jahr 2012.“ Die Gesellschaft, wir müssen uns ändern. So „war und ist die LGBTIQ-Community auch eine soziale Bewegung, die für Rechte kämpfen muss, die ihr weiterhin verwehrt bleiben.“ ( Lea Susemichel & Jens Kastner, 2020, 115)

Das viel gefeierte Grundgesetz ist eigentlich nicht verdächtig, diskriminierende Aussagen zu enthalten, oder? Stopp. Erst in diesem Jahr wird endlich bzw. voraussichtlich der Begriff der Rasse im Artikel 3 GG ersetzt. Die Arbeit der Rechtswissenschaftlerin Isabelle Kutting und der Jurastudentin Naziar Amin „Mit ‚Rasse‘ gegen Rassismus? – Zur Notwendigkeit einer Verfassungsänderung“ könnte genau dazu führen. Angestoßen wurde dies unter anderem durch die Jenaer Erklärung mit dem knackigen Namen: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“. Die vier Autoren beabsichtigten mit der Jenaer Erklärung „gegen scheinbar wissenschaftliche Rechtfertigungen für Rassismus“ zu wirken. Neben der erwähnten Erklärung spielte bei Amin aber auch das persönliche Erleben von Alltagsrassismus eine Rolle. Nun lässt sich die Arbeit der beiden Wissenschaftlerinnen, die sie im September 2019 begannen, nicht in den Kontext BLM-Proteste einordnen. „Allerdings muss man dabei erwähnen, dass es erschreckende Anlässe gegeben hat, die diese Debatte erst wieder ausgelöst haben, etwa die Anschläge von Hanau und Halle oder der rassistische Mord an George Floyd.“

Eine Kategorie der Diskriminierung wird in der aktuellen Diskussion wenig beachtet – die ökonomische. Arbeitslosigkeit wird zum Schreckgespenst für Kinder aus der von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht und ist bittere und grausame Realität für viele Familien und Einzelpersonen. Die Zeiten als gegen Hartz IV Politik gemacht wurde, Hartz IV das Thema der LINKEN war und viele Arbeitslosengeld II Empfänger in den Straßen waren, scheint vorbei. Doch Diskriminierung aufgrund von Armut und oder Arbeitslosigkeit muss genauso ein Thema werden wie Rassismus und Diskriminierung von LGBTIQ. Fakt ist aber auch, dass eine häufig Kombination von zwei oder drei der Merkmale race, gender und class auftreten.

Zugegeben, einzelne politische Forderungen der BLM-Bewegung finde ich persönlich überzogen. Etwa die Korrektur von toten Schriftsteller*innen, indem Bücher umgeschrieben werden und sei es nur bei wenigen Worten. Und innerhalb der Welt der LGBTIQ-Personen bin ich orientierungslos und habe einen merkbaren Lernrückstand. Aber wahrscheinlich nicht nur ich.
Zum Gendern der Gegenwartssprache hat Sinan Kücükvardar einen lesenswerten Artikel mit dem schönen Titel „Gendern. Warum ich es tue und scheiße finde“ geschrieben. Und genau darum gehts! Solidarisch ist man mit Personen und Gruppen, die sich von mir und meiner Gruppe unterscheiden mit denen es aber trotzdem eine inhaltliche Schnittmenge gibt.

Wiederbelebung des Mosaiks, der Idee Solidarität!

Mit der Mosaik-Linken verhält es sich offenbar wie mit „Hartz IV abschaffen“ als politisches Projekt. Galt das Mosaik Ende der Nuller-Jahre als der Wurf, spricht heute keiner mehr wahrnehmbar davon. Möglicherweise war letztendlich auch ein wenig Furcht der Grund dafür, wie etwa bei Wehr. „In all diesen Kampagnen, großen und kleinen, Initiativen und Gruppen verliert sich die Partei DIE LINKE, ist sie nur noch ein Stein unter vielen anderen in einer sogenannten Mosaiklinken.“

Sie [die Emanzipation, D.] bedarf eines Zusammenwirkens und eines gemeinsamen Projekts, das zu erstreiten ist und eine kollektive Handlungsfähigkeit erfordert, sie muss aber gleichzeitig auch immer gegen andere Teile der linken Grundströmung erstritten werden, da Praktiken und Diskurse der Herrschaft auch das linke Feld durchziehen, wie strukturierte Machtverhältnisse von Race, Class und Gender auf der einen Seite, aber auch Bürokratie, Elitenanmaßungen oder ein ideologischer Imperialismus auf der anderen Seite.“ (Kalmring, in: Hawel / Kalmring, 2016, 22f.).

Mit der BLM-Bewegung und der queer- und LGBTIQ-Bewegung sind einige laute und einflussreiche Stimmen zu hören und die Akteur*innen und deren Handeln als konform mit dem Neoliberalismus abzustempeln, verschließt die Möglichkeit für die Ausweitung des eigenen Sinnhori-zonts und verkennt mögliche Bündnispartner*innen.

„Radikale Solidarität basiert nämlich geradezu auf Differenzen. Sie setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann. “ ( Lea Susemichel & Jens Kastner, 2020, 129).

Nichtverlinkte Litertur:
– Stefan Kalmring: Organisierungsprozesse auf des Messers Schneide.
Die Ausbildung eines linken Mosaiks als strategisches Projekt
pluraler Selbstermächtigung, in: Marcus Hawel / Stefan Kalmring (Hrsg.): Wie lernt das linke Mosaik? Die plurale Linke in Bewegung, VSA: Verlag 2016, 16-39.
– Lea Susemichel & Jens Kastner: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Unrast Verlag, 2. Auflage, März 2020, ebook Unrast Verlag, April 2020.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert