Lauter Nebenwidersprüche?

Ergänzte Version vom 20.5.21 um 20:22 auf punkgebeteblog

Sahra Wagenknecht wettert wieder gegen das urbane Milieu, aktuell heißt das: die Linke zwischen „bindungslosen Selbstverwirklichungs-Individualismus“ kurz Lifestyle-Linke und linkem Konservatismus.

Ich fühl mich, entschuldigt, angepisst. 1997/98 bin ich nach dem Hochschulstreik an der Bonner Uni der Hochschulgruppe der PDS beigetreten. Da war Kompetenz versammelt! Später war ich in der Bonner Partei aktiv, eingetreten bin ich aber erst im nächsten Kreisverband – auf dem Land – und ausgetreten aus dem nächsten Kreisverband. Und zwischenzeitlich habe ich für das Promovend*innen-Programm der Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet.

Und dennoch, was sich tatsächlich hinter dem schalen Ausbruch Wagenknechts verbirgt, ist eine altbackene, ärgerliche und billige „Akademikerschelte“. Das wird deutlich, wenn Wagenknecht als Zielgruppe des kommenden Bundestagswahlkampfs den „Arbeiter und Nichtakademiker wieder mehr vertreten und zurückgewinnen“ möchte, um die AfD zu schwächen. Dabei ist dies nichts weiter als ein Griff in die Mottenkiste, mit dem sich immer wieder Zustimmung erzeugen lässt. Dass der Vater der Bewegung, Marx, promovierter Philosoph war, Rosa Luxemburg promovierte Ökonomin, Lenin im Selbststudium das juristische Examen ablegte, übersieht die Basis der Partei DIE LINKE genauso gern, wie die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin Wagenknecht es unterschlägt.

Dass Wagenknecht den „bindungslosen Selbstverwirklichungs-Individualismus“ bzw. die Lifestyle-Linke mit Innenstadtwohnungen, E-Mobilität und Bio-Lebensmittel gleichsetzt, entlastet mich auf der einen Seite, zeigt aber auch, dass die vielgerühmte Analytikerin an der Stelle die Scharfeinstellung nicht gefunden hat. Bildung verschafft zwar eine Anwärterschaft aber keine Eintrittskarte zum gutem Leben. Taxifahrende Akademiker*innen haben als Phänomen bereits einen Bart und mit den steigenden Zahlen an Bachelorabsolvent*innen werden weitere Erzählungen folgen. Schaut man sich die Zeitarbeitsfirmen im Netz an, die sich an dieses Klientel wenden, kann daran kein Zweifel bestehen. Es stimmt zwar, dass studierte Menschen insgesamt besser am Arbeitsmarkt klar kommen, das heißt aber nicht, dass sie auf einflussreiche oder geldbringende Positionen abonniert sind. Und nur dies passt zu dem von Wagenknecht unterstellten Lifestyle.

Dass es von den Innenstadtakademiker nicht so wahnsinnig viele gibt, ergibt sich schon daraus, dass nicht alle in Innenstädte wohnen können. Die Wenigen, die es geschafft haben, denn wer die Miete in welcher Innenstadt auch immer zahlen kann, hat Geld oder wohnt in einem Doppelverdiener*innenhaushalt – diese Wenigen, die noch nicht mal zu dem 1% gehören – haben es geschafft und prägen offensichtlich das Bild. Und die üben also die Meinungsführerschaft aus?

Dass Aldi, Lidl &Co zu Bioläden geworden sind und es dort kein Hack oder keine Wurst mehr zu finden wäre, kann ich nicht bestätigen! Dass von der Generation „Irgendwas mit Medien“ auch eine handvoll Hochschulabgänger*innen dort landen konnten und damit wahrnehmbar sind, sollte man gönnen können – vor allem, wenn man/frau an die vielen Praktikant*innen denkt, die in die Reihen der reinen Medienkonsument-*innen zurückfallen. Aber selbst, wenn die Meinungsführer*innenschaft in den Händen der Fußgängerzonen-Linken läge, wäre es doch sehr vereinfachend zu denken, dass die Mediennutzer*innen derart beeinflussbar wären.

Die Suche Wagenknechts nach neuen Wählergruppen ist nicht neu. Nach den Wahlergebnissen der Wahlen in Brandenburg und Sachsen 2019 kommentierte Wagenknecht im Kontext der asyl- und migrationspolitischen Positionen ihrer Partei laut deutscher Welle: „die Linke sei eine ‚grün-liberale Lifestyle-Partei‘ geworden oder werde so wahrgenommen.“ Die (inhaltliche) Revalität zwischen Wagenknecht und Kipping endete mit dem Ende der Amtszeit Kippings. Im Rückblick geht sie auch auf Wagenknecht und die unterschiedliche Adressaten LINKER Politik ein. Erfolge würden mit der Unterstellung angegriffen, „wir würden uns nur um urbane Hippster kümmern.“

Der Kampf gegen den Neolieberalismus

Glaubt man Adam Soboczynskis ZEIT-Artikel führen die ersten Ansätze zu dieser Sichtweise bis in das Jahr 2016 zurück. Der Dramaturg Bernd Stegemann schrieb in der ZEIT vom 31. März 2016 und am 23. Februar 2017 Gastbeiträge, die Wagenknecht gefallen haben sollen und die zu dem ersten von mehreren Treffen führten. Zusammengenommen sind alle Themen angeschnitten: der Neoliberalismus mit seinen negativen und unmenschlichen globalen und nationalen Auswirkungen, die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik, die Effekte der wiederkehrenden „alternativlosen“ Merkelschen Krisenpolitik, der die Opposition fehlt und ein linksliberales Bürgertum, dass sich moralisch in die Brust schmeißt, während sie die ökonomischen Verwerfungen übersieht.

Soboczynskis fasst Stegemanns Position so zusammen: „Die bürgerliche Problematisierung von Rassismus und von Geschlechterfragen, die Romantisierung der Migranten, das Ansinnen, alltagsmoralische Affekte zu generalisieren – all dies würde nur vom eigentlichen Drama ablenken: vom globalen kapitalistischen Ausbeutungssystem.“

Stegemann bringt Wagenknecht Soboczynski zufolge mit weiteren Kulturschaffenden zusammen unter anderem auch mit Theaterschauspieler Sebastian Schwarz. Dieser zeigte sich Soboczynski gegenüber als von Stegemann begeistert. Stegemann wolle ähnlich wie der Amerikaner Mark Lilla die „soziale Fragen in den Mittelpunkt […] stellen und die dekadente Political Correctness zurück[..]drängen.“ Stegemann war wie Wagenknecht und andere mit denen sie sich in dieser Zeit trafen, eine*r der Initiatoren der Bewegung Aufstehen und für eine Weile der Vorstand des Vereins Aufstehen.

Identitätspolitiken

Anfang Mai griff Meischberger im Gespräch mit ihrer Gästin Wagenknecht ein Beispiel aus deren Buch auf, dass ein Unverständnis für die unterschiedlichen Formen vor allem aber auch für die Folgen von Diskriminierung vermuten lässt. Obwohl die Politikerin hin und wieder durchblicken lässt, dass sie durchaus selbst bereits von Ausgrenzung und diskriminierendem Verhalten betroffen war, wird dies den heutigen Opfern von Rassismus und Sexismus in der politischen Kommunikation Wagenknechts nicht deutlich. Auch wenn dies auf der persönlichen Ebene noch nachklingen mag.

Rassismus wird für Wagenknecht, so der Eindruck, erst politisch real, wenn er strukturell auftritt, etwa als Benachteiligung bei der Wohnungssuche oder auf dem Arbeitsmarkt.

„Der verschlechterte Tarifvertrag, den Unilever fast zeitgleich zum heroischen Abschied von der Z[…]sauce den 550 Mitarbeitern im Knorr Stammwerk in Heilbronn (…) aufgezwungen hatte, besteht unverändert. (…) Anders als die [..]sauce hatte all das allerdings nie für Schlagzeilen oder gar für einen Shitstorm (…) gesorgt.“ (Maischberger ab 4:40 min)

Nichts davon ist falsch!

Als dann Maischberger, die Journalistin Anna Dushime fragte, ob sie jemanden kenne, für den der Alltagsrassismus ein genauso großes Problem sei, „wie ein niedriger Lohn, wie eben sozial (sic!) abgehängt zu sein?“, hätte es die Chance gegeben, mit einem „Ja“ Wagenknechts Kriterien zu knacken. Denn, ja, Opfer von Alltagsrassismus leiden darunter und das Wort drückt es aus, es sind wiederkehrende Situationen, die immer wieder schmerzen.
Eine Gesamtschau von 134 Studien

„schloss auf negative physische und psychische Folgen der Diskriminierung mit einem stressähnlichen Syndrom, das zu Verstimmung und Depression führt.
Drei Typen von Reaktionen auf Diskriminierung wurden identifiziert: (1) prosoziale Reaktionen, (2) Rückzug und Vermeidung und (3) antisoziale Reaktionen wie Aggressivität.“

Mit dieser Ebene der persönlichen Konsequenzen beschäftigt sich Wagenknecht offenbar nicht, daher kann sie als Politprofi sagen, Forderungen nach der Umbenennung seien „Symbolpolitik“ und „Alibipolitik“, schließlich tue sie niemandem weh. Aber sie kann heilen. Und wenn eine Minderheit bzw. deren Mitglieder sich weniger diskriminiert fühlen, wenn die Mehrheitsgesellschaft auf eine bestimmte Bezeichnung verzichtet, ist das Eintreten für den Verzicht keine Alibipolitik sondern Pflicht.

Man kann daraus schließen, dass diese Politik für sie und Stegemann weniger wichtig ist als antikapitalistische oder Sozialpolitik. Deshalb erinnert der ZEIT-Redakteur die ZEIT-Leser*innen an so verstaubte Begriffe wie „Haupt- und Nebenwiderspruch“.

Sahra Wagenknecht ist von ihren Ansichten überzeugt, niemand würde ihr das absprechen. Wenn man aber sieht, wie und wann sie ihre Überzeugungen veröffentlicht, ist auffallend, dass sie ihre Positionen in Stellung bringt, populistisch, nicht analytisch. Auch wenn sie darauf Wert legt.

Fortsetztung folgt …

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