„In einer ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo niemand mich kennt, wird mein Leben sich beschließen.“ Unabhängig vom Ort spricht hier eine Verzweiflung aus den Wörtern, die Fremde in der Fremde nur zu gut kennen. Es sind Worte von Benjamin an Adorno.
Vielleicht waren es diese Sätze, die den Bonner Verein ‚Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute‚, der die Sache vorangetrieben hat“, veranlasste, sie „als „Mahnmal der namenlosen Flüchtlinge“ zu verstehen – der Arbeitskreis „will hier regelmäßig Veranstaltungen ‚zum Thema Emigration und Toleranz‘ stattfinden lassen.“ Die taz, in der diese Ergänzung zu finden war, fragte sich, ob die bei der Eröffnung der Gedenkstätte anwesenden Ministerpräsidenten, „der namenlosen Flüchtlinge“ mit gedachten. „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.“ Das wusste auch Walter Benjamin, von dem dieses Zitat stammt. Und weiter: „Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ Sie zu ehren ist das Ziel der Konstruktion, dessen Teil diese Zeilen sind. So erinnert das Mahnmal an beide: Walter Benjamin und die namenlosen Flüchtlinge.
Das Leben des ausgebürgerten Juden und unorthodoxen Kommunisten war durch die nach Südfrankreich vorrückenden deutschen Truppen und der ihnen folgenden Gestapo unmittelbar gefährdet. Er war genau in der Situation, für die der Asylartikel 16a im Grundgesetz geschaffen wurde.
Hanns Butterhof, der diesen Vergleich schrieb, legt den Finger in die Wunde, wenn er im ersten Satz seines Artikels feststellt: „Das einzige deutsche Denkmal für Flüchtlinge steht im nordspanischen Grenzort Portbou.“ Vielleicht fällt es Deutschland deshalb so leicht, das Schicksal, die gegenwärtigen Flüchtlinge zu vergessen, weil es sich selbst ein Denkmal gesetzt hat. Darauf deutet der offizielle Name hin: Gedenkort für Walter Benjamin und die Exilierten der Jahre 1933 – 1945.
Und die Beiträge der Länderchefs bei der Eröffnung weisen ebenfalls darauf hin: „die Ministerpräsidenten von Hessen und Baden-Württemberg, Hans Eichel und Erwin Teufel, [würdigten] das Exemplarische im Leben des Emigranten Benjamin. In seinem Los spiegele sich ‚das Schicksal der Besten einer ganzen Generation‘, sagte Eichel.“ Es geht um eine vergangene Generation von Flüchtlingen, deutsche Flüchtlinge.
Allerdings hat die katalanische Regierung die Bedeutung erweitert. Sie machte die „Gedenkstätte zum geschützten Nationalen Kulturgut in der Kategorie ‚Ort von historischer Bedeutung‘; denn sie ist der Anerkennung aller Menschen gewidmet, für die der Kampf um Demokratie und Freiheit unerlässlich war.“
„Ästhetisierung einer traumatischen Erfahrung“
Wie viel der Journalist:innen, die über die Walter Benjamin Gedenkstätte in Portbou schrieben, wanderte auch Verena Boos die Fluchtroute nach, die sich Walter Benjamin, gesundheitlich schwer angeschlagen, hochmühte.
Diese Strecke abzugehen bewegt sich irgendwo zwischen Pilgerschaft und der Ästhetisierung einer traumatischen Erfahrung. Die Route lebt von einer Pädagogik des Erinnerns ebenso wie vom tragischen Tod ihres Namensgebers – und auch von der Schönheit der Gegend, von der Attraktivität der Fluchtroute, von ihrer sportlichen Herausforderung.
Den lesenswerten Artikel von Verena Boos kann ich nur empfehlen. Sie schildert nicht nur die Geschichte des Pfades, der heute nach Benjamin benannt ist, davor aber Ruta Líster genannt wurde, benannt nach „Enrique Líster, ein legendärer kommunistischer General der republikanischen Armee“, der seine Männer auf diesem Weg aus Spanien nach Frankreich in Sicherheit brachte.
Benjamins Fluchthelferin, Lisa Fittko, hat Jahrzehnte später ein Buch über die gemeinsame Flucht „[a]m 25. September 2017, der sogenannten diada, dem Plus-Minus-Jahrestag von Benjamins Flucht“(Boos, a.a.O.) geschrieben. Sie berichtet auch, dass Benjamin zum Erkundungsgang, einen Tag vor dem Tag der Flucht, mit einer schweren Aktentasche erschien. Darin hatte er eine Arbeit. „Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine Person“, sagte er, betont das magazin Abenteuer Philosophie. Der Verlust des Manuskripts in der übernächsten Nacht, der Nacht des Selbstmordes, stellt eines der verbliebenen Rätsel dar. Es wird vermutet, dass eine Fassung von „Über den Begriff der Geschichte“ in der Aktentasche gewesen sein könnte. Lisa Fittko erinnert sich, dass ihr Benjamin gesagt habe, es sei „das neueste, es sei einzigartig und müsse vor den Deutschen gerettet werden.“
Einige Zeit vorher hatte Benjamin Hannah Arendt und ihren Mann Heinrich Blücher in Marseille geroffen (Vowinckel, 39) und ihnen Manuskripte übergeben, die sie mit nach New York nahmen (39f.). Dort übergab Arendt „Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹“ an Max Horkheimer und Theodor Adorno (70), die es „1942 in dem Gedenkbuch ›Walter Benjamin zum Gedächtnis‹ veröffentlicht“ haben (ebd.).
„Am 28. September 1940 wird Herr Benjamin Walter auf dem katholischen Friedhof von Portbou begraben. Das Grab erhält allerdings keine namentliche Bezeichnung. Hannah Arendt, die den Friedhof noch im Oktober besucht hat, kann es deshalb nicht finden.“ Unter falschen Namen und auf dem falschen Friedhof begraben, liegt die Gedenkstätte des „philosophisch Gewichtigste[n] und der wirkungsgeschichtlich Lebendigste[n]“ deutschen Intellektuellen der Weimarer Republik jwd.
Literatur:
- Boos, Verena: Nachgehen. Eine Spurensuche auf Walter Benjamins letzter Fluchtroute, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 15 (2018), H. 3, Druckausgabe: S. 523-538.
URL: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2018/5619 - .Bleicher, Heinrich/Hans-Mayer-Gesellschaft: Benjamins letzte Grenze (http://www.hans-mayer-gesellschaft.de/benjamins-letzte-grenze/)
- Flucht in die Freiheit – und in den Tod. Humor und Optimismus in: Abenteuer Philosophie vom 29. Juni 2022 (https://www.abenteuer-philosophie.com/flucht-in-die-freiheit-und-in-den-tod/)
- Vowinckel: HANNAH ARENDT. Zwischen deutscher Philosophie und jüdischer Politik, Lukas Verlag 2004.
- Lisa Fittko zu Walter Benjamins Flucht. Ein Interview von Richard Heinemann, in: „Für Walter Benjamin“: Dokumente, Essys und ein Entwurf, eine Publikation des AsKI e.V. hrsg.: Ingrid und Konrad Scheurmann.